Ausgabe 01 / 2025

«Es braucht Bedingungen, die Innovation zulassen.»

Willi Meissner

Das Reallabor hat sich in den letzten Jahren als Schlagwort in der Forschung etabliert. Es verspricht praxisorientierte, transdisziplinäre, anwendbare Forschung. Doch ist das wirklich neu? Oder nur ein neues Wort für bekannte Konzepte? Im Interview mit Susanne Kytzia, Leiterin interdisziplinärer Schwerpunkt Klima und Energie an der OST, diskutieren Reto Largo, Managing Director des Forschungs- und Innovationsgebäudes NEST an der Empa, und Clemens Mader, Dozent am Kompetenzzentrum für Wissenstransfer und Innovation der OST, den Begriff und was Reallabore ausmacht.

Susanne Kytzia: Herr Largo, das Projekt NEST startete 2009 als modulares Forschungs- und Innovationsgebäude, lange bevor der Begriff Reallabor in der Schweiz populär wurde. Was war die Motivation, dieses Projekt zu starten, und was hat man sich davon erhofft?
Reto Largo: Die Ausgangslage war, dass wir in der Baubranche dringend neue Lösungen brauchten – Dekarbonisierung, Materialkreisläufe und Energiemanagement. Es gab viele gute Ideen aus der Forschung, die es aber schwer hatten, den Markt zu erreichen, weil der Bausektor eher risikoscheu ist. Deshalb wollten wir eine Umgebung schaffen, in der Innovationen schnell getestet, validiert und demonstriert werden können. Wichtig war uns, ein Umfeld zu schaffen, in dem auch Fehler erlaubt sind, um Prototypen schnell weiterentwickeln zu können. Seit dem Start dürfen wir mehr als 10 000 Besucherinnen und Besucher pro Jahr bei uns begrüssen.

Kytzia: Wie wichtig ist das Feedback der Nutzerinnen und Nutzer im NEST?
Largo: Feedback ist wichtig, auch wenn wir mit der begrenzten Zahl an Bewohnenden keine statistisch signifikanten Aussagen treffen können. Wir sammeln Feedback zu Materialien, Steuerungssystemen und Komfort. Unser Ziel ist es aufzuzeigen, dass innovative Lösungen im Bausektor praxistauglich sind und sich Investitionen in neue Technologien, Prozesse und Materialien lohnen.
Clemens Mader: Ein Reallabor im sozialwissenschaftlichen Kontext verfolgt die Idee, Lösungen gemeinsam mit den betroffenen Akteursgruppen zu entwickeln. Es geht darum, praxis-
nahe Lösungen für gesellschaftliche Herausforderungen wie den Klimawandel oder die nachhaltige Mobilität im realen Umfeld zu erforschen und zu erarbeiten. Ergebnisoffenheit und Risikobereitschaft müssen durch alle Beteiligten mitgetragen werden. Der gemeinsame Lernprozess ist ein wichtiger Bestandteil.

Kytzia: Wie sieht die Rolle der Wissenschaft in einem solchen Kontext aus?
Mader: In einem Projekt in Zürich haben wir gemeinsam mit der ZHAW und unter Einbindung von Studierenden beider Hochschulen, Wirkungsanalysen von Reallaboren in drei Quartieren umgesetzt. Unsere Rolle war es, ein gemeinsames Wirkungsmodell zu erstellen, mit der Nachhaltigkeitsprofilmatrix, eine Plattform zur Erfassung von Kriterien, Aktivitäten, Zielen und Erkenntnissen aufzubauen und anhand von Befragungen, Interviews und Beobachtungen, Reflexionen und Lernprozesse zu befördern. Ergebnisse sind Rückschlüsse auf die Skalierbarkeit von Massnahmen sowie der Prozessgestaltung und Wirksamkeit von Reallaboren. Die Rolle der Wissenschaft steht somit in der Umsetzung und Vermittlung von wissenschaftlichen Methoden, sowie Verknüpfung und Reflexion der Erkenntnisse aus Wissenschaft und Praxis.
Largo: Ich bin kein Wissenschaftler, sondern sehe mich als Innovationsmanager. Die Wissenschaft sollte sich stärker in Richtung wirkungsorientierter Ökosysteme entwickeln.  Die klassische Forschung ist oft zu stark auf Publikationen fokussiert, während der tatsächliche Markteinfluss vernachlässigt wird.

Kytzia: Brauchen Reallabore zwingend einen physischen Ort?
Largo: Nicht unbedingt, aber ein Ort schafft Emotionalisierung und macht Innovation greifbar. Es geht um erlebbare Räume, in denen Menschen Innovationen sehen und anfassen können. Erst wenn ein Mensch sieht, wie ein Forschungsergebnis sich praktisch anfühlt, aussieht und funktioniert, ist er bereit, sich darauf einzulassen. Gleichzeitig brauchen wir auch digitale Reallabore, die Entwurfsprozesse simulieren.
Mader: Ich würde sagen, auch im Reallabor können virtuelle Modelle das Reale unterstützen. Es hängt stark von der Fragestellung ab. Wichtig ist, dass das Reallabor die Identifikation anspricht und unterschiedliche Stakeholder und somit Perspektiven auf den Raum verbindet.  Virtuelle Simulationen und Modelle können dies fördern.

Kytzia: Braucht ein Reallabor interdisziplinäre Zusammenarbeit?
Largo: Ja, Reallabore müssen multidisziplinär sein. Entscheidend ist die problemorientierte Zusammenarbeit über Disziplingrenzen hinweg. Wichtig ist, dass Prozesse klar definiert sind und eine gemeinsame Sprache gefunden wird. Und natürlich, dass es ein Ergebnis gibt, das man nach seinem Nutzen bewerten kann.
Mader: Ich stimme zu. Die entsprechenden Kompetenzen müssen aber auch an Hochschulen noch vielfach aufgebaut werden. Im neuen swissuniversities Projekt RealTransform werden mit den Universitäten Zürich und Bern hochschulübergreifende Communities of Practice genau dafür aufgebaut.

Kytzia: Welche Empfehlungen würden Sie einer Hochschule geben, um die Reallaborforschung an unserer Hochschule erfolgreich weiterzuentwickeln?
Largo: Es braucht Rahmenbedingungen, die Innovation zulassen. Man sollte einfach starten und aus dem Prozess lernen, anstatt die perfekte Lösung zu planen, bevor man mit der Suche danach begonnen hat. Ganz wichtig: Die Führungspersonen müssen den Prozess unterstützen und Begeisterung dafür wecken.
Mader: Ergänzend würde ich sagen, dass auch gesellschaftlich das transdisziplinäre Verständnis von Forschung gefördert werden muss. Stiftungen könnten eine stärkere Rolle spielen, um solche kollaborativen und ergebnisoffenen Projekte zu finanzieren. Wissenschaft und Gesellschaft sollten gemeinsam voneinander lernen und dadurch stärker voneinander profitieren.

Portrait von Reto Largo am Campus St.Gallen.

Reto Largo ist seit über 11 Jahren Geschäftsführer des NEST; ein «Innovation Accelerator» für Dekarbonisierung, Materialkreisläufe und Energiemanagement im Bau- und Energiesektor. Seine Spezialgebiete sind Innovationsmanagement, strategisches und unkonventionelles Denken, Startup-Coaching, neue Geschäftsmodelle und die Verbindung von Forschung und Industrie.
 

Portrait von Clemens Mader in der Bibliothek am Campus St.Gallen.

Clemens Mader ist Dozent am Kompetenzzentrum Wissenstransfer & Innovation der School of Management der OST. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Wirkungsanalyse von Nachhaltigkeit und Transformationsprozessen sowie Technikfolgen-Abschätzung. Reallabore sind für Ihn ideal um Lehre, Forschung und Ko-Creation mit externen Partnern zu verbinden. 

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