Gemeinschaftliches Wohnen und Wirken im Selbstausbau
Wohnräume im Selbstausbau gestalten und mit gemeinschaftlichem Wohnen verbinden – das sind zentrale Anliegen neuer Wohnkonzepte. Das IFSAR Institut für Soziale Arbeit und Räume hat in einer Studie drei Wohnprojekte untersucht, die aktuell zu den innovativsten der Schweiz zählen.
Flexible Nutzung mit viel Raum für Gemeinschaftliches
Das «Hallenwohnen» hat die Genossenschaft Kalkbreite im Zollhaus direkt beim Hauptbahnhof Zürich umgesetzt. In vier unterschiedlich grossen Hallen wird mehrheitlich gemeinschaftliches Wohnen und Wirken im Selbstausbau gelebt, ohne konventionelle Raumaufteilung mit wenig Privatraum und viel Platz für die Gemeinschaft. Die grösste der vier Gruppen von Bewohnerinnen und Bewohnern besteht aus 18 Personen, darunter sechs Kinder. Sie lebt auf 280 m2. Mobile Wohntürme auf Rädern mit Podesten und Leitern ermöglichen die Nutzung der gesamten Hallenhöhe. Die Idee dahinter: durch bewegliche Elemente flexible und vielseitige Nutzungen der Halle zu ermöglichen. Denn hier sollen sich Wohnen, Arbeiten und Kultur verbinden, alles möglichst ökologisch und nachhaltig. Wer in den verschiedenen Hallen wohnt, will eine spezielle Form der Gemeinschaft leben, jenseits von Kleinfamilie und normierten Wohnformen.
In Bern hat die Genossenschaft Warmbächli ein altes Lagerhaus auf dem Areal der ehemaligen Kehrichtverbrennungsanlage umgebaut (Holligerhof 8). Ihr Ziel: ökologisch, sozial und wirtschaftlich nachhaltigen Wohn- und Arbeitsraum für Menschen in unterschiedlichen Lebenslagen schaffen. Integriert ist das «Selbstausbauloft», bei dem eine neunköpfige Gruppe den Innenausbau übernommen hat, um gemeinschaftlich darin zu wohnen. Mehrere Rohbaueinheiten zur Wohn- und Ateliernutzung sind derzeit als Teil einer neuen Siedlung der Bau- und Wohngenossenschaft Kraftwerk1 im Koch-Quartier in Zürich im Bau. Auch hier sollen die künftigen Bewohnerinnen und Bewohner den Innenausbau selbst umsetzen.
Grosse soziale Anziehungskraft
Die Integration verschiedener Wohn- und anderer Nutzungen innerhalb der Siedlungen ist auch eine architektonische Herausforderung. Die beteiligten Architektinnen und Architekten haben eine spezielle Rolle, treten sie doch eher in den Hintergrund und überlassen das Planen und Ausbauen weitgehend den Bewohnerinnen und Bewohnern. Insofern ist hier auch die Architektur ein Annäherungsprozess, in dem Wohnkonventionen verlassen, das Ungeplante zugelassen sowie Kontrolle und Gestaltungshoheit an die künftigen Bewohnerinnen und Bewohner abgegeben werden können.
«Die soziale Anziehungskraft solcher Wohnprojekte ist gross. Die Beteiligten loten gewissermassen die Grenzen des baulich und sozial Machbaren aus. In der Umsetzungsphase steht der Selbstausbau im Vordergrund, später wird das gemeinschaftliche Zusammenleben wichtiger. Der Selbstausbau wird als ein persönliches Experimentierfeld gesehen, als eine Art Gesamtlebenskonzept jenseits von Konventionen», so Nicola Hilti. Doch es ist nicht nur der Reiz der Projekte selbst, der Interessierte anzieht: «Auf dem Wohnungsmarkt fehlen schlicht passende Alternativen für Gross-Wohngemeinschaften oder Patchwork-Familien.»
Nischen mit Potenzial
Die Bewohnerinnen und Bewohner der untersuchten Wohnprojekte sind vielfältig bezogen auf ihre soziodemografischen Merkmale und ihre Beweggründe. Zugleich sind sie relativ homogen: «Sie sind ressourcenstark und verfügen über die finanziellen und ideellen Mittel, um genügend Zeit für den Selbstausbau aufzubringen sowie in die sozialen Prozesse zu investieren.» Die Bewohnerinnen und Bewohner decken eine breite Altersspanne ab und sind beruflich in vielfältigen Bereichen tätig. Viele haben bereits Erfahrungen mit minimalistischen oder kollektiven Wohnformen. Für die einen ist das Wohnen im Selbstausbau eine längerfristige Wohnform, für die anderen eine Wohnform für einen klar definierten Lebensabschnitt.
«Solche Wohnprojekte werden wohl eine Nische bleiben, weil sie für alle Beteiligten ziemlich voraussetzungsvoll sind. Aber Aspekte des Gemeinschaftlichen wie des Selbstausbaus könnten durchaus auch auf andere Wohnkonzepte oder Zielgruppen übertragen werden. So liessen sich Wohnräume flexibler an sich verändernde Bedürfnisse anpassen, etwa wenn sich Familienkonstellationen ändern. Auf jeden Fall leisten die neuen Wohnkonzepte einen Beitrag zur Diversifikation und Bedürfnisorientierung des Wohnangebots. Ob sie ein ressourcensparendes und kostengünstiges Wohnen befördern, wird sich noch weisen», resümiert Luana Massaro nach zweieinhalb Jahren Forschung.
Kontakt
Prof. Dr. Nicola Hilti
Co-Projektleiterin
IFSAR Institut für Soziale Arbeit und Räume
nicola.hilti@ost.ch
Projektteam: Nicola Hilti, Luana Massaro, Christian Reutlinger, Denis Wizke