Ausgabe 02 / 2024

«Städte als Schlüssel zum Klimaschutz»

Willi Meissner

Tanya Müller García war von 2012 bis 2018 Umweltministerin der 9-Millionen-Einwohner-Metropole Mexiko-Stadt und weiss aus eigener Erfahrung, wie wichtig Grossstädte für Massnahmen zur Bekämpfung der Auswirkungen des Klimawandels und zur Verbesserung des Klimaschutzes sind. Immerhin leben in den Industrieländern bereits rund 80 Prozent der Bevölkerung in städtischen Gebieten (zum Vergleich: in der Schweiz sind es rund 74 Prozent). Im Interview mit der OST – Ostschweizer Fachhochschule spricht sie über die Bedeutung der Städte im Kampf gegen den Klimawandel und wie jede und jeder Einzelne einen Beitrag leisten

OSTpunkt: Der Klimawandel betrifft alle. Doch immer mehr Menschen leben in Städten. Was müssen gerade Städte beim Thema Klimawandel beachten?
Tanya Müller García: Im Allgemeinen sind grosse Städte der Schlüssel zum Klimaschutz. Welche Massnahmen möglich sind, hängt davon ab, ob die Städte im globalen Süden oder im globalen Norden liegen. Die Ansätze sind sehr unterschiedlich. Entscheidend sind konkrete Ziele für die Vermeidung von klimabedingten Problemen wie Hitzeinseln oder Überschwemmungen und die Anpassung von Bevölkerung, Infrastruktur und Stadtgestaltung. Klimaaktionspläne sollten geschlechtsspezifische und integrative Anpassungs- und Minderungsziele enthalten.

Um dies zu erreichen, müssten die Regierungen weltweit viel mehr von der Privatwirtschaft, aber auch von den öffentlichen Verwaltungen selbst verlangen. Es gibt Widerstand gegen vergleichsweise milde Klimaschutzmassnahmen, wie z. B. energetische Sanierungspflichten für Gebäude oder Emissionsgrenzwerte für Fahrzeuge. Die Bürger müssen wissen, wie sie sich anpassen können sowie sich der CO2-Reduktionsziele und des Nutzens bewusst sein. Der zweite Punkt ist der Verkehr, insbesondere der öffentliche Verkehr, der oft eine grosse Emissionsquelle ist. Anpassungsmassnahmen sind wichtig, weil Überschwemmungen, Hitzewellen und extreme Niederschläge infolge des Klimawandels immer häufiger werden. Wenn die Menschen das verstehen, werden sie auch bereit sein, Massnahmen zu unterstützen. Sie sollten von den Regierungen ergriffen werden.

Welche Klimamassnahmen können alle Städte auf der ganzen Welt generell ergreifen?
Jede Stadt der Welt kann ihr Energienetz und den öffentlichen Verkehr sauberer machen. Natürlich müssen die Regierungen mit gutem Beispiel vorangehen, transparent sein und Auskunft darüber geben, wie sie die CO2-Emissionen reduzieren. Die Stadtverwaltungen müssen zeigen, welche Massnahmen sie in ihren Bezirken ergreifen.

Eine Stadt hat viele Instrumente, um sich zu verändern: Baumassnahmen sind nur eines davon. Welches Instrument ist Ihrer Meinung nach das wichtigste?
Die Stadtplanung gibt die Leitlinien vor, innerhalb derer sich eine Stadt langfristig entwickelt. Sie muss Nachhaltigkeitskriterien berücksichtigen, indem sie bereits genehmigte Pläne evaluiert. In grossen Städten auf der ganzen Welt werden grüne und blaue städtische Infrastrukturen zur Kühlung und zum Hochwasserschutz umgesetzt. Doch wenn es um Massnahmen zur CO2-Reduzierung geht, bleibt der Umfang der vorgeschlagenen Massnahmen oft hinter den Zielen für 2030 und 2050 zurück.

Wie können Sie aufgrund Ihrer sechsjährigen Erfahrung im Umweltministerium diesem Widerstand entgegenwirken?
Botschaften, Ziele und Massnahmen müssen für die Menschen verständlich sein. Die Menschen sind nur dann bereit, auf den gewohnten Komfort zu verzichten oder auf öffentliche Verkehrsmittel umzusteigen, wenn diese sicher, sauber, effizient und bequem sind und wenn sie wissen, inwieweit ihre Umstellung zu den Zielen beiträgt, die sich die Stadt gesetzt hat. Wie wirken sich Hitzewellen konkret auf sie aus? Welche Auswirkungen haben private Fahrzeuge auf städtische Gebiete? Wie kann ich meinen Alltag gestalten und zu einer umweltfreundlicheren Stadt beitragen? Wenn die Stadtverwaltungen ihre Massnahmen und Entscheidungen nicht in einem aufrichtigen Dialog mit dem täglichen Leben der Menschen verknüpfen, wird es Widerstand geben.

Was sind Ihre Eindrücke und lassen sich die Schweizer Städte und ihre klimatischen Herausforderungen mit Ihren Erfahrungen in Mexiko-Stadt vergleichen?
Die Grössenordnung ist sehr unterschiedlich. Was die Gesellschaft betrifft, so ist die Schweiz ein Land, in dem alle Städte eine vergleichsweise hohe Lebensqualität, eine hohe Wirtschaftskraft und ein hohes Bildungsniveau haben. Was den Klimawandel betrifft, so ist das Erreichen von Netto-CO2-Zielen bis 2050 in der Schweiz viel eher möglich als in weniger entwickelten Ländern.

Wenn Sie durch Schweizer Städte fahren, was fällt Ihnen auf? Wird schon viel für den Klimaschutz getan oder gibt es noch Potenzial? Wenn ja, wo genau?
Es gibt sehr positive Beispiele. Die Luftqualität und die Wasserwirtschaft sind sehr gut. Aber es gibt immer noch Bereiche, in denen mehr getan werden kann, vor allem bei der Verbesserung der Energieeffizienz, der Emissionssteuer und den Emissionsgutschriften.

Porträt von Tanya Müller Garcia am Campus Rapperswil-Jona

Rückblickend ist mir klar geworden, dass Kommunikation der Schlüssel zur Umsetzung restriktiverer Massnahmen ist.

Tanya Müller García

Rückblickend: Welche Projekte während Ihrer Zeit als Umweltministerin von Mexiko-Stadt würden Sie wieder genauso durchführen, welche anders oder gar nicht mehr?
Die Verknüpfung der Projekte mit den Themen Klimawandel und Luftqualität war von grundlegender Bedeutung. Das Verständnis für den Nutzen und die Auswirkungen der Reduzierung von Russ auf die Klimaschutzziele, aber auch auf die Luftqualität und die Gesundheit war ein Meilenstein in der Art und Weise, wie wir diese Themen in der Stadt angehen. Was die konkreten Projekte betrifft, so haben wir historische Investitionen in die Fahrradinfrastruktur getätigt. Zum Beispiel waren die ersten Massenfahrradstationen oder die Integration der öffentlichen Fahrradkarte in die übrigen öffentlichen Verkehrssysteme der Stadt, wie Metro und Metrobus Schlüsselprojekte, die sich sehr positiv auswirkten, insbesondere im Hinblick auf die traditionell schwierige Luftqualität in Mexiko-Stadt. Rückblickend ist mir klar geworden, dass Kommunikation der Schlüssel zur Umsetzung restriktiverer Massnahmen ist, z. B. zur Einschränkung der Autonutzung. Es wurden Qualitätsworkshops darüber abgehalten, was Luftqualität ist, welchen Einfluss der Verkehr darauf hat, was Ozonwerte bedeuten und wie sie entstehen und welche Verhaltensweisen die CO2-Emissionen erhöhen und welche sie verringern. Die Nutzung sozialer Medien war ebenfalls ein wichtiger Kanal zur Information der Öffentlichkeit.

Manchmal hat man den Eindruck, dass die Bürgerinnen und Bürger von den Politikern Lösungen erwarten, aber gleichzeitig nicht darauf vertrauen, dass diese in der Lage sind, die Lösungen zu haben und umzusetzen. Als Mitglied der demokratisch gewählten Regierung lebt man mit diesem Widerspruch. Ein wichtiger Aspekt für mich war, dass Mexiko-Stadt Teil des C40-Netzwerks wurde. Unser Klimaaktionsprogramm wurde in Bezug auf unsere Anpassungsziele anerkannt. Wir waren sehr transparent und haben alle Informationen online gestellt. Die Legitimität in den Augen der eigenen Bevölkerung und der verschiedenen Interessengruppen einer Grossstadt steigt, wenn alle Daten zugänglich sind und die Grundlage für alle Entscheidungen und Massnahmen öffentlich hinterfragt werden kann.

Wenn Sie allen Kommunalverwaltungen einen einzigen wichtigen Ratschlag geben könnten, wie würde dieser lauten?
Haben Sie keine Angst, schwierige Entscheidungen zu treffen. Die Bürgerinnen und Bürger haben Sie gewählt, um dies zu tun. Legen Sie klare Programme fest und haben Sie von Anfang an den Mut, schwierige Massnahmen zu ergreifen. Es ist wichtig, die Öffentlichkeit auf dem Laufenden zu halten und transparent zu sein, was den Zugang zu relevanten Informationen angeht.

Welche Personen gehörten zu Ihrem Team?
Unser Vorteil war, dass wir ein technisch sehr gut ausgebildetes, junges Team hatten, das sich nicht scheute, Risiken einzugehen. Alle waren unserem Arbeitsplan und seinen Zielen verpflichtet. Wir hatten sechs Jahre Zeit, um unsere Ziele zu erreichen.

Wie haben Sie Ihr Team auf diese sechs Jahre vorbereitet?
Wir haben das Führungsteam und die Experten zu Medientrainings geschickt, die sich ausgezahlt haben. Für Menschen, die der öffentlichen Meinung ausgesetzt sind, war es unglaublich wichtig, Kritik auszuhalten und dagegen zu argumentieren, und zwar auf eine Weise, die nicht nur wissenschaftlich, sondern auch für die Bevölkerung verständlich ist. In Zeiten politischer Krisen war ich immer eine Anlaufstelle für die Änderung von Programmen wie Hoy no circula oder die Verschärfung der Fahrzeugüberprüfung, die zur Leitung eines Sekretariats gehört. Aber da das Team insgesamt gut vorbereitet war, konnte ich mich immer darauf verlassen, nicht allein zu sein. Wenn man in der Politik etwas bewirken will, muss man bereit sein, Entscheidungen zu treffen, die oft auf Widerstand stossen und alles andere als populär sind, aber im Laufe der Zeit die richtigen Entscheidungen sind, und man muss erkennen, dass wir als Politiker dafür verantwortlich sind, Entscheidungen zu treffen, die die Nachhaltigkeit der Stadt ermöglichen sowie die Lebensqualität und die Gesundheit der Bevölkerung verbessern.

Wie hat Ihnen die Mitgliedschaft im C40-Netzwerk geholfen?
Die Zugehörigkeit zum C40-Netzwerk ist hilfreich, weil man eine globale Struktur hinter sich hat, die von führenden Städten und Bürgermeistern unterstützt wird, die bereit sind, Risiken einzugehen, um ihre Städte zu verändern.

Engagement für die Zukunft

Zusätzlich zu ihrem Interview hielt Tanya Müller García einen Vortrag vor Forschenden aus allen Fachbereichen der OST, externen Gästen, Stadtplanenden sowie Energie- und Umweltingenieuren. Müller García betonte, wie wichtig das Engagement im Kampf gegen den Klimawandel ist. «Wir müssen gemeinsam handeln, um eine nachhaltige Zukunft für die kommenden Generationen zu sichern. Jede und jeder von uns kann dazu beitragen, sei es in der Politik, in der Privatwirtschaft, in der Wissenschaft oder in der Zivilgesellschaft, als engagierte Bürger», sagte Müller García.

Schliesslich nutzte Müller García ihren Vortrag an der OST, um junge Stadtplanerinnen sowie Energie- und Umweltingenieure zu ermutigen, eine politische Karriere nicht auszuschliessen, selbst wenn sie einen technischen oder planerischen Hintergrund haben. «Wenn wir die Klimaziele erreichen wollen, brauchen wir Menschen wie Sie in der Politik, die in der Lage sind, die Herausforderungen der kommenden Jahrzehnte zu verstehen, die erforderlichen Lösungen zu finden, und die Hartnäckigkeit haben, die notwendigen Entscheidungen für eine nachhaltige, gerechte, widerstandsfähige und integrative Zukunft zu treffen», führte Müller García aus.