Archiv 01 / 2024

«Wir müssen unsere Stromproduktion bis 2050 verdoppeln»

Willi Meissner

Die Energiewende ist nicht nur eine technische, sondern auch eine politische, wissenschaftliche und gesellschaftliche Herausforderung. Für die Reduktion der CO2-Emissionen bei einer gleichzeitig sicheren Energieversorgung ist eine gemeinsame Anstrengung der Schweiz nötig. Im Interview spricht Alexander Keberle, Leiter Infrastruktur, Energie und Umwelt bei economiesuisse darüber, wo die Schweiz steht und wie die Chancen für eine erneuerbare Energiezukunft ab 2050 stehen.

Herr Keberle, die Schweiz will bis 2050 ihre Energieversorgung elektrifiziert haben und keine Treibhausgase mehr ausstossen. Heute decken wir fast 59 Prozent unseres gesamten Energiebedarfs aus importiertem Öl und Gas. Elektrizität macht nur rund 27 Prozent des gesamten Energieverbrauchs aus, stammt aber bereits zum Grossteil aus erneuerbaren Energiequellen und wird weiter ausgebaut. Ist der Zeitplan für die Energiewende haltbar?
Alexander Keberle: Die Herausforderung besteht hauptsächlich im Ersatz der fossilen ­Energien und der Vermeidung von Emissionen in der Landwirtschaft, der Industrie sowie im Ge­bäude- und Mobilitätsbereich. Das heisst konkret, wir müssen unsere Stromproduktion aufgrund des erhöhten Bedarfs und des Wegfalls der Kernkraftwerke bis 2050 verdoppeln. Der Zeitplan ist haltbar, aber ich bezweifle, dass dies allein mit Erneuerbaren erreicht werden kann.

Hinter Energieimporten und Energie­verbrauch stehen Handelsverträge und poli­tische Dialoge, fossil geprägte Energie­infrastruktur und Fahrzeuge sowie eta­blierte Logistik und Geschäftsmodelle. Änderungen verursachen meistens Kosten. Gibt es ak­tuelle Schätzungen, wie viel der Energieumbau bis 2050 kosten wird?
Keberle: Es gibt zahlreiche Schätzungen, wobei alle auf verschiedenen Annahmen und ­Szenarien basieren. Grundsätzlich ziehen wir zwei Haupterkenntnisse aus den verschiedenen Studien: Erstens – signifikante Investitionen sind notwendig, aber man bekommt auch etwas dafür. So würden wir viel Geld durch effizien­tere Systeme (Mobi­lität, Gebäude) einsparen, es eröffnen sich neue Geschäftsfelder und Klima­ver­träglichkeit wird die Standortattraktivität der Schweiz stärken. Unter dem Strich könnte der Nutzen die Kosten mehr als aufwiegen. Zweitens – die Kosten sind nur dann tragbar, wenn wir offen für ­Innovationen sind und nicht alle Karten auf einzelne Technologien setzen. Beispielsweise ist der Zubau von dringend notwendigem Winterstrom dreimal günstiger, wenn er auf verschiedenen Technologien basiert. Wichtig ist insbesondere auch Bandenergie, welche die Kernkraft liefert.

Um das erneuerbare Energiepuzzle zu lösen, müssen viele Teile zusammenpassen: Produktion, Speicherung, Transport und Verbrauch von Energie bei gleichzeitiger Elektrifizierung von heute fossil betriebenen Prozessen. In welchem Bereich ist die Schweiz auf einem guten Weg? Wo müssen wir noch besser werden?
Keberle: Die Reduktions-Zielvorgaben für das Jahr 2020 wurden vom Gebäudesektor fast und von der Industrie mehr als erreicht. Im Verkehrssektor blieben die Emissionen relativ konstant. Die Industrie wird ihren eingeschlagenen Weg weiterverfolgen und Wärmepumpen und Elektrofahrzeuge werden immer häufiger, sodass in den Sektoren Gebäude und Verkehr die Emissionen weiter reduziert werden. Ich denke, grundsätzlich sind wir auf dem richtigen Weg, wenn auch deutlich zu langsam. Problematisch bleibt der Umgang mit schwer oder nicht vermeidbaren Emissionen. Hier benötigt es noch technologischen Fortschritt, damit solche Emissionen an den Quellen abgeschieden und danach unterirdisch gelagert werden können. Falls dies nicht möglich ist, müssen die Emissionen mit negativen Emissionstechnologien der Atmosphäre entzogen werden. Diese Technologien gibt es zwar bereits, sie sind aber derzeit noch viel zu teuer und mengenmässig noch nicht skalierbar.

Angenommen, politischer Wille und Geld spielten keine Rolle: Können die Unternehmen den Umbau des Energiesystems vor dem Hintergrund eines derzeit akuten Fachkräftemangels in der (erneuerbaren) Energiebranche bewältigen?
Keberle: Der Fachkräftemangel stellt tatsächlich ein Grundproblem dar. Nicht nur bezüglich Energiewende, sondern grundsätzlich bezüglich Weiterentwicklung unserer Wirtschaft. Der Fachkräftemangel könnte das Wachstum unserer Wirtschaft ausbremsen. Gleiches gilt für den Energiebereich. Falls sich der Fachkräftemangel noch weiter akzentuiert, besteht die Gefahr von Verzögerungen.

Für die Energiewende sind nicht nur Fachkräfte nötig. Die Schweiz muss dafür auch Energieinfrastruktur und Rohstoffe aus dem Ausland importieren. Viele Länder wollen derzeit ihren Anteil erneuerbarer Energien mit den gleichen Produkten massiv ausbauen. Wie schlagkräftig ist die Schweiz im globalen Einkaufswettbewerb?
Keberle: Das Problem, das wir in der Schweiz haben, sehe ich grundsätzlich nicht im Einkaufswettbewerb, sondern in den viel zu lange dauernden Verfahren. Die Verfahren für den Zubau von erneuerbaren Energien und den Ausbau der Verteilnetze dauern viel zu lange. Es kann bspw. zwanzig Jahre und länger dauern, bis man eine Bewilligung für den Bau und den Betrieb von Windturbinen erhält, während der effektive Bau dann weniger als ein Jahr beträgt. Mit einer solch langen Bewilligungsdauer lässt sich keine Energiewende realisieren. Daher begrüssen wir, dass derzeit eine Beschleunigungsvorlage für den Zubau von Erneuerbaren im Parlament beraten wird und eine andere Beschleunigungsvorlage für Netze vom UVEK angekündigt wurde.

economiesuisse plädiert für eine international abgestimmte Klimapolitik, die Raum für unternehmerische, technologieoffene Lösungen lässt. Wie viel Gewicht hat eine unilaterale Energiestrategie der Schweiz in einer Welt, in der ein Klimagipfel in einem ölproduzierenden Staat stattfindet und der Gipfelpräsident öffentlich die Meinung vertritt, dass ein Ausstieg aus fossilen Energieträgern für die Erreichung des 1,5-Grad-Ziels nicht unbedingt nötig sei?
Keberle: Die Schweiz sollte sich stärker in diese internationale Diskussion einbringen. Mit dem Ende letzten Jahres gegründeten Klimaclub der G-7, dem die Schweiz an der diesjährigen COP 28 in Dubai beigetreten ist, bietet sich die Chance für die Schweiz, sich unter Gleichambitionierten stärker einzubringen. Wir haben bereits eine der höchsten CO2-Abgaben der Welt (120 Franken pro Tonne CO2), während die meisten Staaten gar keine solche Abgabe kennen. Mit unserer Vorbildfunktion sind wir glaubwürdig. Ein Engagement in Richtung einheitliche globale CO2-Bepreisung bietet sich an. Das wäre ein gewaltiger Schritt nach vorne.

Unabhängig von internationalen Handlungsfeldern: Was ist der grösste Hebel, den die Schweiz alleine im eigenen Land in Richtung Energiewende umlegen kann?
Keberle: Ausreichend vorhandener Strom ist eine Voraussetzung für die Erreichung des Netto-Null-Zieles. Mit dem aktuellen Ausbautempo der Erneuerbaren wird das nicht ausreichen. Wie eingangs gesagt, müssen wir unsere Stromproduktion bis 2050 verdoppeln. Nebst einem massiven Ausbau der Erneuerbaren ist der grösste Hebel der Ausbau der Kernenergie. Das Neubauverbot von Kernkraftwerken muss nun in der Schweiz fallen. Wir müssen alle Optionen nutzen, damit wir die Energiewende schaffen können. Mit der Kernenergie steht eine klimaneutrale Technologie zur Verfügung, die sehr wenig Landflächen beansprucht und grosse Mengen an kontinuierlicher Elektrizität zu produzieren vermag.

Im Zuge des durch den Krieg in der Ukraine ausgelösten plötzlichen Anstiegs der Energiepreise wurde insbesondere in Europa wieder das Bewusstsein geschaffen, wie abhängig wir vom internationalen Energiemarkt sind. Haben Sie seitdem eine Veränderung bemerkt, wie Politik und Wirtschaft über Energieabhängigkeit und fossile Energieträger denken? 
Keberle: Es gab zwischenzeitlich einige Stimmen, die Energieautarkie oder einen Stromgeneral gefordert haben. Ferner gibt es politische Bestrebungen, ausländische Investitionen bei kritischen Infrastrukturen nicht mehr zuzulassen. Dabei ist klar, wir benötigen dringend und sehr viel Zubau von Stromkapazitäten in der Schweiz. Das ist prioritär. Ein Stromabkommen mit der EU würde aber weitere Sicherheit für unsere künftige Versorgung bieten und über 50 Milliarden Franken bis 2050 sparen, weshalb wir ein solches auch dringlich abschliessen sollten. Einen Alleingang der Schweiz gilt es zu verhindern, da er viel zu viel kosten würde.

Die Wirtschaft wird in Bezug auf die Energiewende häufig in einer Doppelrolle genannt. Einerseits soll sie Energiewende und Nachhaltigkeit aktiv vorantreiben und innovative Lösungen finden. Andererseits gibt es Zweifel, dass sie das wirklich will. Stichworte Greenwashing und Gewinnmaximierung. Was ist Ihr Eindruck: Wie ernst nehmen Unternehmen die Energiewende und das Thema Nachhaltigkeit insgesamt?
Keberle: Wie bereits erwähnt, hat die Industrie als einziger Sektor das CO2-Reduktionsziel für 2020 erreicht und sogar übertroffen. Dabei sind die Zielvereinbarungen ein Erfolgsmodell. Die Unternehmen erhalten eine Verminderungsverpflichtung und bei deren Erfüllung erhalten sie die CO2-Abgabe vollständig zurückerstattet. Dieses System hat sich bewährt und ist erfolgreich. Deswegen soll dieses System bei der aktuell laufenden CO2-Gesetzesrevision auch auf alle Unternehmen ausgeweitet werden. Hinzu kommt, dass jegliche umgesetzten Effizienzmassnahmen, seien es nun solche, die auf den Stromverbrauch wirken, oder solche, die auf die Emissionen wirken, letzten Endes auch zu künftigen Einsparungen an finanziellen Mitteln bei den Unternehmen führen. Dies erhöht mittel- bis langfristig die Wettbewerbsfähigkeit dieser Unternehmen. Somit kann ich sagen, die Unternehmen nehmen die Energiewende und das Thema ‘Nachhaltigkeit’ sehr ernst, auch weil mit dem Klimaschutzgesetz das Netto-Null-Ziel im Jahr 2050 nun gesetzt ist. Was man aber ehrlich sagen muss: Ein Engagement wird für unsere Unternehmen dann zum Problem, wenn die Kunden nicht bereit sind, dafür zu zahlen und Unternehmen im Ausland sich nicht oder weniger darum kümmern und dann billiger produzieren. Man kann von Unternehmen durchaus erwarten, dass sie sich für die Nachhaltigkeit einsetzen. Aber man kann aus meiner Sicht nicht verlangen, dass sie aus Pflichtbewusstsein ihre Existenz gefährden. Darum sind international abgestimmte Ansätze so wichtig, die gleich lange Spiesse garantieren.

Was sind die grössten Hindernisse für Unternehmen, die sich schneller von Öl und Gas lösen wollen?
Keberle: Das grösste Problem beim vollständigen Ersatz von fossilen Energieträgern sind derzeit die vielfach fehlenden Alternativen oder die noch zu hohen Kosten von bereits bestehenden Alternativen.

Wie könnte die Politik diese Hindernisse aus dem Weg räumen?
Keberle: Die betreffenden Technologien und Energien müssen weiterentwickelt werden und dereinst in grossen Massstäben zur Verfügung stehen können. Mit dem Innovationsfonds hat die Politik im Klimaschutzgesetz einen Topf mit 1,2 Milliarden Franken für solche Weiterentwicklungen geschaffen. Ansonsten geht es vor allem darum, dass die Politik für die Unternehmen die richtigen Rahmenbedingungen schafft. Planungs- und Investitionssicherheit sind zentrale Bedürfnisse der Wirtschaft.

Die Energiepolitik ist Ihr Kernbusiness bei economiesuisse. Woran arbeiten Sie und Ihr Team derzeit?
Keberle: Wir setzen alles daran, dass wir 2050 Versorgungssicherheit mit klimaneutralem, wirtschaftlich tragbarem Strom haben. Das ist essenziell – für die Bevölkerung, aber auch für die Unternehmen. Noch gibt es viele Baustellen, angefangen bei effizienter Förderung über Bauverfahren bis hin zum optimalen Strommix.

Auf welchen Erfolg sind Sie besonders stolz?
Keberle: Wir konnten mit unseren im letzten Jahr veröffentlichten Konzept «Fünf Grundpfeiler für eine sichere, nachhaltige und wirtschaftliche Energieversorgung» die Debatte zum Mantelerlass massgeblich mitprägen. Zudem haben wir in diesem Jahr eine Studie bei der ETH in Auftrag gegeben, die zeigt, dass sowohl eine Verlängerung der Laufzeiten bei Kernkraftwerken als auch ein allfällig neues Kernkraftwerk in der Schweiz Vorteile bieten. Eine solche Studie hatte bislang noch gefehlt.

Und zum Abschluss: Was ist Ihr wichtigster energiepolitischer Wunsch für die nächsten fünf Jahre?
Keberle: Dass wir rote Linien fallen lassen und Energiepolitik endlich als das technische Thema behandeln, das es ist. Wir sollten nicht mit Graben- und Glaubenskämpfen Zeit verlieren, diesen Luxus können wir uns nicht leisten.

Zur Person

Alexander Keberle
Alexander Keberle ist seit April 2022 Mitglied der Geschäftsleitung bei economiesuisse und leitet die Bereiche Infrastruktur, Energie und Umwelt und WWA «Wirtschaft. Wir alle.». In dieser Funktion ist er unter anderem Vize-Präsident des Vereins Go for Impact, Vice-Chair in einem OECD BIAC Committee und in zahlreichen Beiräten. Daneben ist er als Verwaltungsratspräsident eines KMU im Gesundheitsbereich aktiv. Vor economiesuisse war Alexander als Associate Partner bei McKinsey & Company tätig. Alexander Keberle verfügt über einen Master in Law und Economics der Universität St.Gallen und einen Master in Public Policy der Universität Oxford, Blavatnik School of Government.

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